Jugendwerkstatt in Treyvaux

Jugendwerkstatt 2020
Bild: Alle Teilnehmer sind glücklich über die gelungene Renovierung des Spielplatzes im nationalen Zentrum von ATD Vierte Welt in Treyvaux.

Junge Menschen hinterfragen sich und packen an

Insgesamt waren wir neun TeilnehmerInnen, alle im Alter von 19 bis 29 Jahren, die an der ersten Werkstatt dieses Sommers vom 12. bis 18. Juli 2020 teilgenommen haben. Vereint durch den Wunsch, uns als Teil einer Gruppe zu fühlen und Themen zu widmen, die uns täglich beschäftigen und für die Unsicherheit unserer Zukunft stellvertretend sind, kamen wir mit unserer persönlichen Geschichte und unserer jeweiligen Sprache zusammen: Deutsch für die einen, Französisch für die andern.

Der Morgen gehörte dem gemeinsamen Gespräch, der Nachmittag den Verschönerungsarbeiten rund um das Haus und der Abend dem fröhlichen Beisammensein. Jeden Morgen betrachteten wir einen andern Kurzfilm, der in einem Land, in dem die Bewegung ATD Vierte Welt seit Jahren tätig ist, gedreht worden war. So begegneten wir in der Schweiz, in Zentralafrika und in Bolivien Menschen, die in ihrem Alltag grosse Armut erleben und sich mit ATD Vierte Welt engagieren. 

Diese Kurzfilme haben unsere Vorstellung der Armut hinterfragt.

«Die Armut ist ein Wissen. Es ist die Armut, die mich leben gelehrt hat.» 

Jean Marc aus der Schweiz.

Diese Worte hätten wir Menschen privilegierter Herkunft als Provokation empfinden können. Aber wir spürten alle, dass wir einem Mann gegenübersassen, der seine Sprache aus der Tiefe seiner Erfahrung, aus dem Leiden und der Armut, der Freiheit, dem Frieden und der Vergebung entwickelt hatte. Es waren wesentliche Fragen, die sich uns allen eines Tages stellen könnten.

Jean-Marc, wie auch Gisèle in Zentralafrika oder Emma in Bolivien, alle haben sie ausgedrückt, wie umfassende Armut die gesamten Menschenrechte angreift, bis hin zum Recht inmitten der andern leben zu dürfen und als Mensch anerkannt zu werden. Während die Armut in unseren Gesellschaften fast ausschliesslich als Mangel und als materielle Not gesehen wird, fanden wir uns Menschen gegenüber, die sofort die Frage der menschlichen Beziehungen stellten.

«…denn wenn du arm bist, so kann es sein, dass du keinen Namen mehr hast, dass dich die Leute nicht mehr bei deinem Namen nennen.» 

Jean-Marc

Wir leben in einer Gesellschaft, die immer noch ausgrenzt und zum Menschen zum Schweigen, zur Nutzlosigkeit und zur Schande führt. Mit was für Beziehungen müssen wir unsere Gesellschaft gestalten, damit jedes Mitglied sich ausdrücken kann und seine Rechte und seine Würde anerkannt sieht?

« Bei ATD geht es darum, Beziehungen unter den Menschen zu knüpfen.»

Joseph Wresinski, Gründer der Bewegung ATD Vierte Welt

Diese Frage nach menschlichen Beziehungen hat an unsere Vorstellungen vom Einsatz aufgerüttelt.

Was heisst es, sich für die Überwindung der Armut einzusetzen?
Wo kann man sich auf gleicher Ebene begegnen, gemeinsam etwas aufbauen und lernen, trennende Grenzen zu überwinden?
Wie lange braucht es, um Vertrauen aufzubauen?
Wie lange, um Aufrichtigkeit zu schaffen?
Was brauchen armutsbetroffene Menschen wirklich? 
Und wer bestimmt, was sie wirklich brauchen?

Wir haben auch über die Fürsorge gesprochen und wie sie zu Macht und Abhängigkeit führen kann. Nur auf Notsituationen zu reagieren, führt noch nicht zu einer Veränderung der Gesellschaft und der menschlichen Beziehungen.

« Ich spreche nicht mehr vom Elend, jetzt spreche ich vom Frieden.»

Gisèle

Mehrere Gruppenmitglieder haben betont, wie wichtig es ist, ein gemeinsames Ziel zu haben. 

Bei unserer Arbeit am Nachmittag konnten wir spüren, wieviel Kraft die Einheit gibt. Wir hatten zum Ziel, den Spielplatz der Kinder zu erneuern. Wir spürten den vollen Einsatz eines jeden. Dank dem Nachbarn Jean-Bei unserer Arbeit am Nachmittag konnten wir spüren, wieviel Kraft die Einheit gibt. Wir hatten zum Ziel, den Spielplatz der Kinder zu erneuern. Wir spürten den vollen Einsatz eines jeden. Dank dem Nachbarn Jean-Bernard, der uns mit seinem Traktor die neuen Holzschnitzel aus der Sägerei brachte, konnten wir diese Arbeit in nur drei Tagen zu Ende führen. Wir strichen auch die Fensterläden des Pavillons neu, wo das Sekretariat der Bewegung ATD Vierte Welt zuhause ist. Sowohl diese Arbeiten als auch die Gespräche waren wichtig, um sich kennenzulernen. Es ist unglaublich, wie die Dinge vorankommen können, wenn wir in einer gemeinsamen Anstrengung mit einem gemeinsamen Ziel zusammenkommen!

Chen Yue Guang, ein chinesischer Philosoph, benützt das folgende Gleichnis, um von der Bewegung ATD Vierte Welt und den Gedanken von Joseph Wresinski zu sprechen:

« Wenn bei einer Überschwemmung jemand ins Wasser fällt und zu ertrinken droht, wie helfen wir ihm dann? Oft finden sich Leute am Ufer, die ihm die Hand zu reichen suchen und das ist schon gut. Aber es gibt auch solche, die ins Wasser springen. 
Früher bestand unsere ganze Hilfe an die Armen darin, vom Ufer aus die Hand zu reichen. Aber Père Joseph und jene, die ihm folgen, haben beschlossen, ins Wasser zu springen. Was heisst das? Du wirst nass, du bist selber im Wasser, und du kämpfst mit dem Ertrinkenden, um zusammen mit ihm das Ufer zu erreichen. » 

Was heisst es, « nass zu werden »? 

An den letzten beiden Morgentreffen konnten wir diese Frage anhand verschiedener Einsatzmöglichkeiten in der Bewegung ATD Vierte Welt vertiefen, besonders anhand des Volontariats.

Eugen Brand, der seit 40 Jahren Mitglied des Volontariats ist, hat uns von seinem Weg mit ATD Vierte Welt berichtet. So entdeckten wir den Einsatz der Männer und Frauen, die seit den Anfängen der Bewegung ATD Vierte Welt (1957 in der Notsiedlung von Noisy-le-Grand bei Paris) isolierte und gemiedene Orte ihres Landes aufsuchten, um mit den ärmsten Menschen dort zu wohnen und den Alltag zu teilen. Sie schufen Wege, damit diese sich mit Menschen auf der ganzen Welt verbinden und ihre Stimme hören lassen können, auch an Orten der Macht, wo über die Zukunft der Gesellschaft und ihr Zusammenleben bestimmt wird. 

Eine Woche, die Spuren hinterlässt

Diese erste Woche endete mit einem fröhlichen Karaoke-Abend, der bis zum frühen Morgen dauerte.

Am nächsten Morgen konnten wir bei der Auswertung spüren, wie diese Tage im Innern eines jeden neue Samen gesät hatten. Einige der TAm nächsten Morgen konnten wir bei der Auswertung spüren, wie diese Tage im Innern eines jeden neue Samen gesät hatten. Einige der Teilnehmenden verabschiedeten sich mit dem Wunsch, in ihrem Umfeld von der Bewegung ATD Vierte Welt zu sprechen und sie bekanntzumachen oder sich für punktuelle Aktionen zur Verfügung zu stellen. Andere denken gar darüber nach, einen Langzeiteinsatz im Volontariat zu übernehmen. Jon, der die Bewegung vorher nicht gekannt hatte, sagte:

«Vorher habe ich mir nie die Frage gestellt, jemandem in Not die Hand zu reichen oder ins Wasser zu springen. Jetzt spüre ich, dass mich diese Frage das ganze Leben lang nicht mehr loslassen wird. »

Simeon Brand

Nächste Jugendwerkstatt vom 16. bis 21. August 2020

Anmeldung

Flyer

Jugendbauzeit im nationalen Zentrum von ATD Vierte Welt in Treyvaux (FR, Schweiz)