Ein klarer Blick auf die Welt

Ein klarer Blick auf die Welt

Foto: Olivier Baud stellt sich an der Generalversammlung vom 20.September 2020, an der Seite der Ko-Präsidenten Hélène Cassignol Madiès und Jean-Paul Petitat, vor.

Olivier Baud war dreizehn Jahre lang Generalsekretär der Offiziellen Jugendstiftung (FOJ) in Genf und wurde vor kurzem pensioniert. Seit September 2020 ist er im Vorstand von ATD Vierte Welt und beteiligt sich an den Werkstätten „Wissen verbinden“.

Anfangs der 80er Jahre, als er in die Genfer Hochschule für Sozialarbeit eintritt, macht Olivier Baud eine autobiographische Arbeit. Er beschreibt sich darin als ein Kind, das in einer Sozialwohnung eines Genfer Vororts aufwächst, in der Ruhe einer liebenden Familie des Mittelstands, die ihre Sonntage bei den Grosseltern verbringt. Er sei ein Kind des Babybooms gewesen, fügt er hinzu, «eines jener zahlreichen Kinder, die in der Hoffnung auf eine menschlichere und geschwisterlichere Welt gezeugt wurden». In diesen Werten findet er sich wieder, auch heute noch. 

Aber gehen wir nicht zu schnell, hören wir zu, wie er von seinem Grossvater väterlicherseits spricht, einer zentralen Figur.

«Als Waise kam er mit seiner Schwester und seinem Bruder in das religiöse Heim Mariazell in Sursee, weil ihre Mutter Luzernerin war. Zurück nach Genf kamen sie dank den Bemühungen eines Cousins, der bis ans Bundesgericht gelangt war. Als ich zehn Jahre alt war, besuchte unsere Familie dieses Heim. Mein Grossvater starb zwei Jahre später. Seine Schwester, die fast hundert Jahre alt wurde, hatte den Beschluss des Bundesgerichts, dass die Kinder Baud nach Genf zurückkommen müssten, aufbewahrt. Dieses Dokument hat sie mir vermacht.» 

Als Olivier Baud 2006 die Direktion der FOJ übernimmt, bleibt ihm sein Grossvater sehr präsent. 

«Nachdem ich mit Asylsuchenden und mit Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung gearbeitet hatte, wollte ich mich nun Kindern und ihren Eltern zuwenden. Ich machte nicht sofort die Verbindung mit meiner Geschichte. Es war erst später, als ich den Kindern im Alltag und den Eltern begegnete, dass die Erinnerung an meinen Grossvater erwachte. Er hat dann seinen Platz voll eingenommen, als man mir vorschlug, der Kommission beizutreten, die sich der Opfer der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen annahm. An jeder Sitzung erhielt  die Geschichte meines Grossvaters noch mehr Gewicht. Ich erlebte sie mit ehemaligen  fremdplatzierten Kindern, die schlecht behandelt worden waren.» 

Seine Familiengeschichte nährt ihn und gibt seinem professionellen und zivilen Einsatz Sinn. 
«Ich fand es sehr richtig, etwas mehr Menschlichkeit in die Begleitung der Kinder zu bringen und wesentlich, den Eltern ihr Wirken zurückzugeben, statt sie an den Rand zu drängen. Ich erkenne die Werte von ATD Vierte Welt auch als die meinen. Die Familie ist ein Ganzes. Die Kinder zu schützen und die Elternschaft anzuerkennen, das geht zusammen.»

«Alle Eltern sollen Unterstützung erhalten, damit sie ihre Fähigkeiten und Kompetenzen voll nutzen können. Das war eines meiner grossen Anliegen. Während meiner ganzen beruflichen Laufbahn wollte ich soziale Veränderung bewirken. Anders hätte ich meinen Beruf nicht ausführen können. Das hat mich bis zu meinem letzten Arbeitstag auf Trab gehalten. Und ATD ist eine Fortsetzung.»

Olivier Baud

«Ich bin seit 2013 und der Zeremonie der Entschuldigung an die fremdplatzierten Kinder mit der Bewegung ATD Vierte Welt in Kontakt. Nach meiner Rede kam eine Gruppe von Basismitgliedern zu mir, um für die Anerkennung aller Dimensionen ihres Leids, und insbesondere der Armut, zu danken. Das war ein starker Moment für mich.» 

Schliessen wir nun den Kreis und gehen zurück zu den Worten, die Olivier Baud im Alter von 22 Jahren geschrieben hat: « Wenn ich Sozialarbeiter werden will, dann um zu leben und den Menschen in Leid und Not zu helfen, aber auch, um ihnen zu helfen, sich gegen eine unmenschliche Gesellschaft zu wehren. Das mag utopisch erscheinen, aber ich glaube wirklich daran. » Olivier Baud schaut mit klarem Blick auf die Welt. Der hat sich in vierzig Jahren nicht getrübt.

Das Buch, das er selber gerne geschrieben hätte: Oser le verbe aimer en éducation spécialisée (Wagen wir das Verb lieben in der Heilpädagogik)von Philippe Gaberan, Edition Erès

Nächste Generalversammlung von ATD Vierte Welt : 17. April 2020, 10.30 – 12.30 Uhr