Eine engagierte Frau

Eine engagierte Frau

Martine Abbet, unsere lebhafte Buchhalterin, schaut auf vierzig Jahre mit ATD Vierte Welt zurück, zuerst im Volontariat, dann als Verbündete und als Angestellte, die nun in Pension geht.

Martine, wie hast du ATD Vierte Welt kennengelernt?

Es war über den Verband UNITE, der eine Liste von Organisationen herausgab, mit denen Einsätze in der Entwicklungshilfe möglich waren. Nach fünf Jahren Arbeitserfahrung als kaufmännische Angestellte wollte ich mich mit Menschen einsetzen, die bei uns in Europa in Armut lebten. So verbrachte ich 1978 eine erste Kennenlernzeit im Volontariat von ATD Vierte Welt im Sekretariat des nationalen Zentrums in Treyvaux. Ich machte weiter im internationalen Sekretariat in Pierrelaye in Frankreich und leitete dann dort im Val d’Oise das Kinderatelier für schöpferisches Lernen.

Kannst du etwas erzählen, das dir aus dieser Zeit geblieben ist?

Ich hatte keinerlei Erfahrung mit Kindern, aber Joseph Wresinski, der Gründer von ATD Vierte Welt, schickte mich mit Büchern auf jenen Wohnplatz für Fahrende. Ich war überrascht und berührt vom Vertrauen, das mir die Bewegung und dann besonders auch die Eltern dort entgegenbrachten. Sie vertrauten uns ihre Kinder sogar für eine Ferienwoche an – eine Skiwoche! Für ATD Vierte Welt ist es nichts Aussergewöhnliches, im einen oder andern Bereich noch keine Erfahrung zu haben, geht es doch darum, Gelerntes zu hinterfragen und offen zu sein, unvoreingenommen und bereit, den Benachteiligten zuzuhören, sie ernstzunehmen und gemeinsam vorwärtszugehen.

Später hast du dich als Verbündete eingesetzt?

Ja, ich habe Jean-Christian geheiratet, der seinen Zivildienst bei ATD Vierte Welt in Frankreich machte, und ich war nicht mehr bereit, weiter wegzuziehen. Wir haben dann drei Jahre in Grenoble in einer Sozialsiedlung, die keinen guten Ruf hatte, gewohnt. Mir gefiel es gut dort und unsere beiden Kinder Guillaume und Nathalie sind dort zur Welt gekommen. 1985 zogen wir nach Neuenburg, wo ich mein weiteres Engagement in der Bewegung als Verbündete lebte. Eine Gruppe von etwa zehn Personen kam zustande und traf sich regelmässig. Wir überlegten miteinander und organisierten Ausstellungen, Weihnachtsfeiern, Informationsstände…

Wie hast du deine Aufgaben als Mutter und als aktives Mitglied von ATD verbunden? Und warum hat sich die ganze Familie engagiert?

An den damaligen Bildungstagen der Universität Vierte Welt für Familien habe ich mich mit den Kindern eingebracht. Während die Erwachsenen ein Thema behandelten, erlebten die Kinder Tapori bei verschiedenen Aktivitäten. Für einen gemeinsamen Schluss kamen Gross und Klein dann wieder zusammen. Es schien mir normal, auch meine eigenen Kinder mitzubringen. Ich war überzeugt, dass es eine Chance war für die Kinder, an einem besonderen Ort mit andern, die andere Erfahrungen mitbrachten, zusammenzusein. Hier, an einem wunderschönen Ort bei passenden Aktivitäten unter guter Leitung konnten alle das Miteinander erleben und einander ohne Vorurteil begegnen.

Erinnerst du dich an etwas Besonderes, das deine Kinder erlebten?

Schwierig, etwas auszuwählen! Vielleicht das: Einmal lud Gisèle, eine armutserfahrene Mutter, meine Familie zu sich zum Essen ein, zu einem Kaninchenragout. Weil ihr Ältester wusste, dass mein Sohn fasziniert war von Skeletten, nahm er sich die Mühe, den Schädel des Kaninchens gründlich zu reinigen und ihn dann meinem Sohn zu schenken.

Gab es etwas, das deine Kinder beson-ders beschäftigt hat?

Der Tod von Tanja, einer jungen Frau, die meine Tochter Nathalie anderthalb Jahre vorher in einer Familienferienwoche kennengelernt hatte. Die ersten Male, als meine Kin-der mit dem Tod konfrontiert wurden, betraf er Menschen, die von der Armut gezeichnet waren. Ausgrenzung und täglicher Überlebenskampf zehren an den Kräften der Menschen.

Vierzig Jahre lang mit ATD Vierte Welt – was hat dir das gebracht?

ATD Vierte Welt hat meinem Leben Sinn gegeben, einen Leitfaden. Dass ich auch als Angestellte mitarbeiten konnte, gab mir eine andere Möglichkeit, mich einzusetzen. Mit der Bewegung unterwegs zu sein bedeutet, eine gewisse Art zu arbeiten: mit Respekt und mit Vertrauen.

Was können wir dir für deinen neuen Lebensabschnitt wünschen?

Ich bin eher eine Einzelgängerin – es ist kein Zufall, dass ich mit Zahlen gearbeitet habe! Ich werde nun lernen müssen, andere Verbindungen zu knüpfen, indem ich meinen Mut zusammennehme und zum Telefon greife. Ihr könnt mir wünschen, dass ich mich auch weiterhin für die Menschen einsetze.

Aufgezeichnet von Natacha Rostetsky