Und wenn sich die Geschichte nicht wiederholen würde?

Und wenn sich die Geschichte nicht wiederholen würde?

In verschiedenen Schweizer Kantonen sind Bestrebungen im Gang, die Höhe der Sozialhilfe zu kürzen. Das ermahnt uns, die politischen Entwicklungen auf kantonaler Ebene genau zu verfolgen. Denn in gewissen Kantonen gehen die Bestrebungen weit über die Kürzung des Sozialhilfebetrags hinaus – und erinnern an ein dunkles Kapitel Schweizer Geschichte.

Neben verschiedenen Bestrebungen, die Sozialhilfe massif zu kürzen, fordert eine Sozialvorsteherin einer Gemeinde im Kanton Aargau, zukünftig einen Sozialhilfe-Maximalbetrag für kinderreiche Familien vorzuschreiben.

„Drei Kinder sind genug“,

lautet der Titel des Vorstosses, der im Grossen Rat eingereicht wurde. Mit dieser Idee soll der Unterstützungsbetrag der Sozialhilfe auf drei Kinder begrenzt werden – wer mehr Kinder hat, müsste fortan selber schauen, wie er die zusätzlichen Kosten finanzieren kann. Noch höhere Wellen schlägt aber ein Gesetzt, das im selben Kanton bereits seit 1. März dieses Jahres in Kraft ist: es besagt, dass „Personen, die in verschiedenen Lebensbereichen der Unterstützung bedürfen, zur Umsetzung entsprechender Betreuungs- oder Integrationsmassnahmen einer Unterkunft zugewiesen werden“ können. Ursprünglich als ein Gesetz für Asylsuchende gedacht, die von der Sozialhilfe unterstützt werden, wurde der Artikel später auf alle Sozialhilfebeziehenden ausgeweitet – mit dem Argument, dass man keine Zweiklassengesellschaft einführen wolle.

Offene Tür für eine Willkür

Dieses Gesetz öffnet Tür und Tor für eine Willkür, die an dunkle Zeiten der Schweizer Geschichte erinnert. Bis 1981 praktizierte die Schweiz administrative Versorgungen, die Menschen (oft unbefristet) wegsperrten – und das ohne, dass sie eine Straftat begangen hatten. Oft reichte es für eine jahrelange Anstaltsversorgung, dass jemand als „arbeitsscheu“ oder als „liederlich“ bezeichnet wurde. Stark davon betroffen waren daher insbesondere auch Personen und Familien, die in Armut lebten. Obwohl auf zahlreiche Gesetze gestützt, war die Praxis der Behörden rechtsstaatlich problematisch und vielfach von offener Willkür geprägt. Erst 2013 hat sich der Bundesrat öffentlich für das, was den von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffenen Personen damals angetan wurde, entschuldigt.

Aus Sicht der Bewegung ATD Vierte Welt ist die aktuelle Entwicklung höchst besorgniserregend, war es doch eine Priorität der letzten Jahre, mit Menschen, die unter den damaligen Zuständen gelitten hatten, zur Arbeit der unabhängigen Expertenkommission, die dieses Kapitel Schweizer Geschichte aufgearbeitet hat, beizutragen. Das Projekt „Armut-Identität-Gesellschaft“, welches ATD Vierte Welt mit Unterstützung des Bundesamtes für Justiz lanciert hat, führt diese Arbeit weiter und versucht zu ver-stehen, wo heute noch ähnliche zutiefst verletzende Mechanismen anzutreffen sind und was wir aus der Geschichte lernen können.

Am vergangenen 22. und 23. November versammelten sich rund vierzig Teilnehmende aus verschiedenen Kantonen der deutsch- und französischsprachigen Schweiz im nationalen Zentrum in Treyvaux. Es waren Personen aus der Forschung, der beruflichen Praxis und Menschen mit eigener Armutserfahrung.
An dieser ersten „Wissenswerkstatt“ legten sie Grundlagen für eine partizipative Forschung. Sie soll drei Jahre dauern und helfen, besser zu verstehen, wie Institutionen, Gesellschaft und Menschen in Armut miteinander verbunden sind. Sie soll daraus Lehren ziehen und neue Handlungsweisen fördern, damit die Armut nicht mehr von einer Generation zur andern weitergeht. Wir spürten den Wunsch aller Teilnehmenden, die Grenzen ihres eigenen Wissens zu überschreiten und Brücken zu finden, Erfahrungen, Erklärungen und Vorschläge zu verbinden und so die Mitwirkung aller als Ko-Forschende sicherzustellen. Wir werden uns bemühen, dass sich die Politik mutig und bestimmt darum kümmert und dafür sorgt, dass sich die Ge-schichte nicht wiederholt.

Michael Zeier