Wenn Menschen zusammen forschen

Wenn Menschen mit Armutserfahrung, Berufsleute und WissenschaftlerInnen zusammen forschen

Die Bewegung ATD Vierte Welt stellt fest, dass im Bereich der Armutsbekämpfung und -forschung in vielen Fällen weiterhin über armutsbetroffene Menschen entschieden und gehandelt wird. So werden sie für Forschungsarbeiten zwar regelmässig über ihre Meinung und Erfahrungen befragt, die Schlüsse werden jedoch meist von anderen Personen gezogen.

Mit dem partizipativen Forschungsprojekt «Armut – Identität – Gesellschaft» (2019 – 2021) versucht ATD Vierte Welt einen neuen Weg zu gehen. Was dieses Projekt von herkömmlichen Forschungsprojekten im Bereich der Armutsbekämpfung unterscheidet, ist die Tatsache, dass die Forschung nie über, sondern stets mit jenen Menschen durchgeführt wird, die am direktesten mit dem Thema konfrontiert sind. So sind in jeder Phase des Projekts Menschen mit Armutserfahrung beteiligt – von der Definition der Forschungsfrage bis zur Analyse und Interpretation der Ergebnisse. Die langjährige Erfahrung der internationalen Bewegung ATD Vierte Welt zeigt, dass nur durch die gemeinsame Herangehensweise und den vollwertigen Miteinbezug direkt betroffener Personen Wege gefunden werden können, um würdevolle und nachhaltige Verbesserungen zu erreichen.

Aus der Geschichte lernen

Unter dem Begriff «fürsorgerische Zwangsmassnahmen» wurden bis ca. 1981 in der Schweiz behördliche Massnahmen praktiziert, die zu drastischen Eingriffen in das Leben der betroffenen Personen führten. Stark davon betroffen waren insbesondere Menschen und Familien, die in Armut lebten. Obwohl sich die Gesetzeslage seither geändert hat, zeigen die Erfahrungen von Mitgliedern von ATD Vierte Welt, dass es auch heute Menschen gibt, die seit Jahren nicht aus der Armut herauskommen und die heutigen «fürsorgerischen» Massnahmen als Kontrolle und Abhängigkeit erleben, die sie in ihrer Würde verletzen und daran hindern als vollwertige Akteure wahrgenommen zu werden.

Das Projekt «Armut – Identität – Gesellschaft» setzt an dieser Stelle an und versucht die Beziehung zwischen Gesellschaft, Institutionen und Menschen in Armut besser zu verstehen und dazu beizutragen, dass sich Armut und erlebte Gewalt im Zusammenwirken mit Institutionen nicht mehr von Generation zu Generation wiederholt. Das vom Bundesamt für Justiz mitunterstützte Projekt dauert drei Jahre und fügt sich in die Dynamik des Nationalen Forschungsprogramms „Fürsorge und Zwang – Geschichte, Gegenwart, Zukunft“ ein.

Echte Partizipation braucht Zeit und Ressourcen

Was auf den ersten Blick simpel klingen mag, ist in der Realität ein aufwändiger und langwieriger Prozess. Um echte Partizipation möglich zu machen, braucht es viel Zeit und Ressourcen von freiwilligen Mitarbeitenden, welche die involvierten Personen begleiten und gegenseitiges Vertrauen aufbauen können. Dies zeigt sich bei der Durchführung der «Volksuniversität Vierte Welt», einem zentralen Anlass des Projektes. Armutsbetroffene Jugendliche und Erwachsene können dabei zusammenkommen und sich darin üben, ihre Erfahrungen und Gedanken auszudrücken und so ein kollektives Wissen aufzubauen. Die Durchführung einer solchen jährlichen nationalen, zweisprachigen «Volksuniversität Vierte Welt», bei der 2019 ca. 80 armutsbetroffene Personen aus verschiedenen Landesteilen der Schweiz zusammenkamen, ist nur möglich dank einer akribischen thematischen Vorbereitung in verschiedenen kleineren regionalen Gruppen.

Verschiedene Arten von Wissen verbinden

Das kollektive Wissen, das dabei erarbeitet wird, ist die Grundlage für eine kleinere Delegation von Personen mit Armutserfahrung, welche Ende jeden Jahres mit Gruppen von Fachleuten aus der Praxis und mit WissenschaftlerInnen an einer «Wissenswerkstatt» (FR: «Atelier du Croisement des Savoirs») zusammenkommen, um ihr Wissen zu verbinden und zu kreuzen. An der Wissenswerkstatt im Jahr 2019 nahmen  36 Personen teil : 12 aus der Peer-Gruppe der Wissenschaft (Recht, Theologie, Sozialarbeit, Geschichte, Soziologie, Wirtschaft, …), 12 aus der Berufspraxis (Sozialdienste, Kinder- und Erwachsenenschutz, Rechtsberatung, Psychologie, öffentliches Gesundheitswesen, Bundesverwaltung, …) und 12 Personen mit unterschiedlichen Erfahrungen von Prekarität oder umfassender Armut.

Dieser Prozess mit den beiden genannten Anlässen im Verlauf eines Jahres wird sich bis zum Ende des Projekts Ende 2021 noch zweimal wiederholen. Durch den Einbezug der verschiedenen Wissensarten und Perspektiven können so politische, institutionelle und akademische Partnerschaften geschaffen werden, mit dem Ziel, dass das gemeinsam erarbeitete, emanzipatorische Wissen tatsächlich anerkannt und aufgenommen wird und zu nachhaltigen Veränderungen führt.

Der Artikel ist in einer ähnlichen Form in der Ausgabe 02/20 der Zeitschrift «ZESO» der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS erschienen.
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Mehr Informationen:
Das Projekt «Armut – Identität- Gesellschaft»